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nach.gedacht

von Benedict Dahm, Kirchenhistoriker, Fachbereichsleiter Kath.-Soziale Akademie Franz Hitze Haus 

Am 4. April 1949, heute vor genau 75 Jahren, unterzeichneten zwölf westliche Staaten den Nordatlantikvertrag und besiegelten damit die Gründung der NATO. Seit Russland im Februar 2022 seinen Angriffskrieg auf die Ukraine entfesselte, wird auch die Bedeutung des Verteidigungsbündnisses wieder prominent diskutiert. Die einen mahnen, mit der Osterweiterung habe die NATO russische Sicherheitsinteressen missachtet – oder jedenfalls identitätsstiftende historische Narrative in gefährlicher Weise torpediert. Niemand Geringerer als Papst Franziskus etwa sprach alsbald vom „Bellen der NATO an Russlands Tür“. Andere sind überzeugt, dass Wladimir Putin ohne die nordatlantische Abschreckungsarchitektur längst weitere Staaten, etwa im Baltikum, zum Ziel seiner imperialistischen Bestrebungen erkoren hätte. Aus diesen Erwägungen heraus beeilte sich etwa das seit jeher bündnisfreie Finnland um Mitgliedschaft in der NATO; Schwedens Beitritt wurde just vollzogen. Und immer wieder taucht die Frage auf: Was wäre gewesen, wäre die Ukraine bereits Teil des Bündnisses gewesen? Hätte das die russische Führung nachhaltig abgeschreckt? Oder wäre am 24. Februar 2022 der Bündnisfall eingetreten – und mit ihm womöglich ein atomarer Weltkrieg ausgebrochen?         

Klar ist, dass seit der „Zeitenwende“ über Fragen der äußeren Sicherheit, über Friedensethik, Aufrüstung und Militärinvestitionen in Summe anders gesprochen und gedacht wird, als dies seit Ende des Kalten Krieges der Fall gewesen war. Die Vorkämpfer einer Geopolitik, die ohne Verteidigungsausgaben, ohne Abschreckung und militärische Denkformen auskommen soll, befinden sich vorerst im Rückzugsgefecht. Doch die unbeirrt pazifistischen Stimmen sind deshalb längst nicht völlig verklungen, und schon gar nicht aus den Reihen kirchlicher Akteure. 2022 kritisierte etwa der EKD-Friedensbeauftragte und Landesbischof Friedrich Kramer die in Reaktion auf die russische Invasion geplante Erhöhung der bundesdeutschen Militärausgaben scharf. Er glaube, „dass die reine Logik der militärischen Stärke Deutschland nicht sicherer macht“. Und die ökumenische Friedensbeweung „Pax Christi“ bezeichnete im Juni 2023 das NATO-Übungsmanöver „Air Defender 23“ als „unverantwortlich“ und als „gefährliche Eskalation“ und mahnte sofortige Abrüstung an.

Die christlichen Kirchen stehen fraglos in einem besonders Spannungsverhältnis zu den grundlegenden Fragen von Krieg und Frieden. Der vom Kirchenvater Augustinus geprägte Begriff des „gerechten Krieges“ sorgt heute für ebenso viel Zündstoff wie eh und je, verschärft durch das pazifistisch überblendete Jesus-Bild der liberalen Exegese des 19. und 20. Jahrhunderts und die aus den 68er-Umbrüchen hervorgegangene Friedensbewegung. Doch schon das Zweite Vatikanische Konzil hat in seiner Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ pointiert festgehalten: „Der Friede besteht nicht darin, dass kein Krieg ist.“ (GS 78) Damit war zum einen der Vorstellung widersprochen, dass das Bibelwort „Schwerter zu Pflugscharen“ ohne Weiteres als Rezept zur Befriedung internationaler Konflikte geeignet sei. Zugleich konstatiert das Konzil, sei wirklicher Friede aber auch nicht einfach identisch mit einem bloßen Gleichgewicht des Schreckens, wie es mithin auch heute propagiert wird. Gerechtigkeit und Freiheit zählt das Zweite Vatikanum stattdessen zu den unabdingbaren Grundlagen einer friedlichen Gesellschaft. Und in der Tat: Frieden – ein in den letzten Jahrzehnten hierzulande vielfach für allzu selbstverständlich gehaltenes Konstrukt – ist das fragile und bisweilen flüchtige Resultat harter Arbeit. Johannes Paul II. fügte diesen Erwägungen 1980 in einer Ansprache an die NATO-Verteidigungsakademie eine weitere Vorbedingung hinzu, indem er die Wahrheit als das wichtigste Hilfsmittel des Friedens bezeichnete. Damit brachte der Papst – nicht nur, aber fraglos auch – das zur Sprache, was in einem weniger pastoralen Rahmen wohl schlicht als Realismus bezeichnet werden würde.

Und damit zum Kern der Sache: 1983 gab der seinerzeit neue Präfekt der römischen Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, dem Spiegel ein ebenso unkonventionelles wie in seinen Aussagen aufsehenerregendes Interview. Im Wesentlichen ging es dabei um die Haltung der katholischen Kirche zum seinerzeitigen Wettrüsten. Christliche Friedensethik, konstatierte Ratzinger, laufe Gefahr, dass ihr „äußerer Ausdruck ins Unernste umschlägt, wenn man sich nicht mehr auf die Wirklichkeit bezieht, sondern eine moralische Attitüde einnimmt, die dann eigentlich auch nichts mehr kostet. Deswegen glaube ich, daß zum Ernst der Moral auch ein gewisser Realismus gehört.“ Und dieser Realismus – und nicht etwa die augustinische Lehre vom gerechten Krieg – sei das Gegenteil des Pazifismus. Kurz: „Ich verstehe unter Pazifismus eine Einstellung, die sich den Realitäten nicht mehr stellen will, die in einen schlichten Unilateralismus mündet, also Machtvakuen schaffen würde, die dann faktisch wieder kriegsfördernd wären.“ Deswegen, so Kardinal Ratzinger, sei Abschreckung – und damit in gewissen Maßstäben auch Aufrüstung – zum Schutz unbedingt schützenswerter Güter nicht nur erlaubt, sondern gegebenenfalls sogar moralisch geboten.

Joseph Ratzinger hat mit diesen Ausführungen bereits 1983 etwas beschrieben, was heute aktueller denn je zu sein scheint. Manche Friedensappelle, die etwa im Hinblick auf die Ukraine begegnen, sind wohl tatsächlich als ein Unilateralismus zu verstehen, der Machtvakuen schafft. Im Sinne der wichtigen Unterscheidung des Zweiten Vatikanums wäre das Ergebnis hierbei nicht Frieden, sondern bestenfalls die Abwesenheit von Krieg – zu einem enorm hohen Preis, den nicht jene zu bezahlen haben, die solche Forderungen stellen. Der spätere Papst hebt hier auf das ab, was bereits in „Gaudium et spes“ den Kerngedanken begründet: Der Mensch „kann in seinem Leben auch so beeinträchtigt sein, daß er gleichsam in einen Kriegszustand versetzt ist. […] Menschen, die ihrer Freiheit oder anderer Sozialrechte beraubt sind, können auch nicht wirklich befriedete Bürger eines Staates sein.“

Zugleich hat Ratzinger in dem zitierten Spiegel-Interview noch auf einen anderen Umstand hingewiesen, der nicht weniger das Potenzial aufweist, dünnflüssige Moraldebatten mit einem kräftigen Schuss Realismus anzudicken: Um den Frieden zu sichern oder herzustellen, sei es nämlich politisch erforderlich, auch die Interessen der Gegenseite wahrzunehmen und zu berücksichtigen, damals namentlich die des Warschauer Paktes, dem sowjetisch angeführten Antagonisten der NATO: „Man muß versuchen zu verstehen, welche Probleme ihn bewegen und wo er, sagen wir, auch schutzwürdige Interessen hat.“ Und Ratzinger fügt an dieser Stelle hinzu: „In der klassischen russischen Politik ist eine gewisse Furcht zu erkennen.“ Wir können davon ausgehen, dass es in den 2020er-Jahren nicht Furcht, sondern Imperialismus ist, der die russische Führung antreibt. Deshalb ist es von Belang, dass Joseph Ratzinger seine Forderung ausdrücklich auf einen möglichen Feind bezieht, den nicht nur vermeintlich, sondern tatsächlich „böse“ Motive antreiben: „Selbst wenn die obwaltende Ideologie in sich freiheitsfeindlich ist, kann es in der politischen Tradition des anderen sehr wohl Gesichtspunkte geben, die man berücksichtigen muß.“ Gemeint ist hier mitnichten eine naive Appeasement-Haltung, sondern zum einen eine Wahrnehmung für die intrinsische Logik des Gegners und zum anderen ein Verzicht auf dessen völlige Dämonisierung. Man darf hier daran erinnern, dass die ersten zarten Triebe der europäischen Einigung nach den entmenschlichenden Schrecken des Zweiten Weltkrieges dadurch genährt wurden, dass Menschen bereit waren, die militärischen Feinde wieder als Menschen zu betrachten.

Am Gründungstag der NATO sind dies Erwägungen, die allemal der Relecture lohnen. Mit ihnen lässt sich in sehr groben Zügen das Feld skizzieren, innerhalb dessen eine christlich verantwortete und realitätsbezogene Friedensethik einer im Ernstfall dem „gerechten Krieg“ verpflichteten Institution wie der NATO begegnen kann:

1) Ihr ist bewusst, dass ein gewisser äußerer Frieden nur durch Abschreckung und eine Balance der Gewalten aufrechterhalten werden kann und dass diese Balance äußerst fragil ist. Sie erkennt den Nexus von innerem und äußerem Frieden in beide Richtungen. Die NATO schützt vor diesem Hintergrund Freiheit und Sicherheit gleichermaßen.  

2) Sie stellt in Rechnung, dass Frieden nicht unilateral herbeigeführt oder abgesichert werden kann, weder durch blinden Pazifismus noch durch die totale Entmenschlichung des Gegners.

3) Sie anerkennt, wie seinerzeit der katholische Militärbischof Johannes Dyba im Kontext des Bosnien-Konflikts zum Ausdruck brachte, dass jedes Land ein Recht auf Selbstverteidigung hat und dass andere Länder ihm zu Hilfe kommen müssten, wenn dieses Recht von dem betroffenen Volk nicht selbst wahrgenommen werden kann. Das ist auch fester Bestandteil der katholischen Soziallehre.

4) Sie weiß aber auch, dass kriegerische Handlungen immer die ultima ratio darstellen, weil jeder Krieg entsetzliches Leid, Zerstörung und Schuld auf allen Seiten bedeutet. Deshalb gilt seit jeher in der Lehre vom gerechten Krieg die Maxime, dass Krieg als Mittel zum Frieden nur dann legitim ist, wenn alle anderen Optionen ausgeschöpft sind und das Ziel realistisch erreichbar ist und nur solange, bis diplomatische Lösungen in Sichtweite geraten.

2024 feiert übrigens nicht nur die NATO ihren 75. Geburtstag, sondern auch die Friedensbewegung „Pax Christi“. Gäbe es eine gemeinsame Feier – so viel Phantasie sei ausnahmsweise erlaubt – und es fehlte noch an einem passenden Geburtstagsgeschenk, dann wären ein Konzilskompendium und ein Ratzinger-Band sicher nicht die schlechteste Wahl.