Religion ist politisch. Perspektiven auf gesellschaftlichen Wandel und Zusammenhalt (11. & 12. April 2024)
Religion und Theologie – nicht zuletzt das Christentum und seine Theologien – haben indes auch großes Potential, zur Befreiung von Unterdrückung und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und Frieden beizutragen. Die Theologie der Befreiung hat auch weit über Lateinamerika hinaus und bis heute Wirkung entfaltet; sie stellt die „Option für die Armen“ in den Mittelpunkt.
Gemeinsam mit Kooperationspartnern hat die Akademie in einem interdisziplinären Ansatz aus Theologie und Sozialwissenschaften gefragt, welche Bedeutung Religion und Spiritualität heute für den Zusammenhalt in demokratischen Gesellschaften und für individuelle und gesellschaftliche Emanzipation haben. Möglich wurde dies durch die enge Zusammenarbeit mit dem Institut für katholische Theologie Osnabrück (Dogmatik / Fundamentaltheologie - Universität Osnabrück), den Lateinamerika-Studien der Universität Hamburg (Lateinamerika-Studien : Fachbereiche Sprache, Literatur und Medien : Universität Hamburg), der Juniorprofessur für Sozialethik der Ruhruniversität Bochum Lehrstuhl für Sozialethik und die großzügige Unterstützung der Fachstelle Weltkirche und globale Zusammenarbeit des Bistums (Weltkirche und globale Zusammenarbeit - Bistum Münster).
In der Auseinandersetzung mit verschiedenen Dimensionen der Themas wurde die enge Wechselwirkung zwischen Theologie, Religion und Politik deutlich: im positiven (befreiend und emanzipatorisch wirkenden) Sinn ebenso wie im negativen (der sich u.a. in der Anfälligkeit von Religion für Missbrauch, Herrschaftslegitimation und Unterdrückung zeigt). Die Wechselwirkung zwischen sozialem Wandel und Religion lässt sich – so eine zentrale Erkenntnis – nur dann sinnvoll analysieren, wenn sowohl die individuelle wie auch die gesellschaftliche Ebene in den Blick genommen werden.
Die Tagung war besonders geprägt von den beiden Referenzpunkten Deutschland und Lateinamerika: Zum einen wurde die einflussreiche „Theologie der Befreiung“ und die sie kennzeichnende „Option für die Armen“ maßgeblich von lateinamerikanischen Theologen als Reaktion auf die dort herrschenden sozialen und politischen Bedingungen entwickelt. Zum anderen pflegen Gemeinden des Bistums Münster seit 1968 eine Partnerschaft zu Gemeinden im Bistum Tula im mexikanischen Bundestaat Hidalgo. Dort, aber auch in ganz Lateinamerika, ist Religion ein integraler Bestandteil von Kultur und Gesellschaft, Volksreligion und Volkskultur verschmelzen miteinander. Soziologische Untersuchungen dieser Partnerschaftsarbeit zeigen die Bedeutung von Religiosität für das Alltäglich-lebensweltliche: Sie stärkt das Selbstwertgefühl der Menschen und trägt dazu bei, dass diese resilienter gegen Einflüsse von außen (wie z.B. auch staatliches Handeln), werden. Vor allem in der Anfangsphase der Partnerschaft trug diese zum Wandel der Geschlechterordnung (durch eine verändertes Rollenverständnis sowohl mexikanischer als auch deutscher Frauen) und zur Aufwertung indigener Communities bei. Die „Institution Kirche“ bildetet nur den (wichtigen) Unterstützenden Rahmen für die Partnerschaft von Menschen, deren persönliche Begegnung und gegenseitige Bereicherung im Mittelpunkt stand und steht. So verstanden, kann Religion zu kleinräumigen, wenig sichtbaren, aber wirkmächtigen Veränderungen beitragen, die langfristig auch in größeren Zusammenhängen Dynamiken entfalten können.
Die Frage, ob und wie Christinnen und Christen zu (befreiender) gesellschaftlicher Veränderung beitragen können, bildete den „roten Faden“ der Tagung. Aus religiöser Motivation erwachsen – das wurde in fast allen Konferenzbeiträgen und Diskussionen deutlich – sowohl eine intensive theologische Beschäftigung mit sozialen und politischen Fragen unserer Zeit als auch konkretes Engagement für die Menschen am Rande. Die „Option für die Armen“ wird bis heute ganz praktisch von Christinnen und Christen gelebt: Die Erfahrung der Verletzlichkeit und des aufeinander Angewiesenseins als Kern menschlicher Existenz sind hier wesentliche Triebkräfte. Das gilt sowohl für Beispiele aus Lateinamerika als auch aus Deutschland. Praxis und kritische Reflexion ergänzen sich hier unabdingbar. Ob sich die Kirchen so verändern und öffnen können, dass sie substanziell zu partizipationsoffenen Beteiligungsverfahren beitragen können und so konstruktive und ergebnisorientierte Politik in „hyperpolitischen Zeiten“ (Anton Jäger) mit ermöglichen können, bleibt dabei eine offene Frage.
Obwohl die aus liberaler Sicht destruktive Rolle von Religion bewusst nicht im Zentrum dieser Tagung stand, haben sich die Teilnehmenden auch mit den theologischen Deutungsmustern der Neuen Rechten in Deutschland beschäftigt. Diese positioniert sich in Teilen dezidiert christlich und beansprucht Deutungsmacht über christliche Begriffe zu gewinnen, indem sie ein „wahres“ Christentum in Abgrenzung zum „liberalen“ Christentum und anderen Religionen (allen voran dem Islam) postuliert. Ihre Vordenker deuten zentrale christliche Begriffe wie die Nächstenliebe von einem universalistischen Konzept um zur Liebe zur eigenen Familien und dem eigenen „Volk“. Christliche Ethik wird in Anlehnung an Carl Schmitt als Individualethik verstanden, die auf den sozialen Nahraum bezogen ist und universalistische Sichtweisen und Solidaritäten ausschließt. Diese Betrachtungsweise hält einer kritisch historischen Analyse der biblischen Texte nicht stand (vgl. Publikationen BAG Kirche und Rechtsextremismus) und wird von der Theologie als wissenschaftlicher Disziplin nicht rezipiert. Gleichwohl stellt rechtsradikales Gedankengut die Kirchen vor Herausforderungen: Wie gehen Gemeinden und ihre Gremien damit um, dass Gemeindemitglieder rechtsradikales oder -extremes Gedankengut teilen und äußern? Ein Bericht aus der pastoralen Praxis zeigte, wie Kirche Kristallisationspunkt für demokratische Kräfte vor Ort sein kann, dass es wichtig ist, sich nicht einschüchtern zu lassen und (buchstäblich und ideell) Raum zu bieten für universalistische und solidarische Gegenpositionen. Rechtsradikalen Funktionsträgen sollte keine Bühne geboten werden auch wenn seelsorgliche Gesprächsfäden auch zu Gemeindemitgliedern, die solche Positionen vertreten, nicht abreißen sollten.
Die eine Quintessenz aus den vielen verschiedenen Themen und Perspektiven der Tagung zu ziehen, ist kaum möglich. Wenn aber eines deutlich wurde, so die Bedeutung der Verbindung von Theologie und christlicher Nachfolgepraxis für das Christentum: Die befreiende Botschaft des Evangeliums kann nur in der Konkretion ihre Kraft entfalten. Der eindrückliche Satz, mit dem die Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils von 1965 beginnt, ist so aktuelle wie eh und je und bedarf immer wieder der Konkretion, um der befreienden Botschaft des Evangeliums zur Entfaltung zu verhelfen: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ (GS 1)
Die Veranstaltung in Bildern:
- Dr. Gilberto Rescher, Soziologe, Lateinamerikastudien, Universität Hamburg
- Dr. Philipp Ackermann, Theologe, Münster / Essen
- Dr. Julia Lis, Institut für Theologie und Politik, Münster
- Severin Parzinger, Mag. theol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter Dogmatik mit Fundamentaltheologie, Institut für katholische Theologie, Universität Osnabrück
- Maria Guadalupe Rivera Garay, Soziologin, Bielefeld Graduate School in History and Sociology