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Gottsuche und Weltverantwortung

1. Abend: Hildegard von Bingen - Vision und Widerstand.

»Mystik ist kein Luxus jenseits der Welt«, schrieb Johann Baptist Metz. Vielmehr ist sie eine »Mystik der offenen Augen«, angefasst vom Antlitz der leidenden Anderen. In einer Geschichte und einer gegenwärtigen Gesellschaft, die von Gewalt, von extremer Ungleichheit, von gegenseitiger Instrumentalisierung durchzogen ist, ist an die christliche Verbindung von Gottsuche und Weltverantwortung zu erinnern. Mystik zieht sich nicht in die Innerlichkeit, ins Private zurück, sondern ist in der Geschichte des Christentums immer wieder eine Kraft des Widerstandes, des Aufbegehrens und der solidarischen »Mitleidenschaft« gewesen und damit Quelle politischen Handelns.
Diese Reihe folgt in sechs Abenden der Spur einer engagierten Mystik durch die Christentumsgeschichte, neben dem ersten Abend zu Hildegard von Bingen werden wir uns mit Meister Eckhart, Katharina von Siena, Teresa von Ávila und Madeleine Delbrêl beschäftigen. Dabei zeigt sich durch die Jahrhunderte hindurch: Mystik und Politik ist keine paradoxe oder gar abwegige Verbindung, sondern ein notwendiger Zusammenhang. Wer nach Gott sucht mit Leib und Seele, kann die Welt nicht lassen, wie sie ist.
Hildegard von Bingen (1098–1179) war eine Frau von erstaunlicher Weitsicht und innerer Autorität – Mystikerin, Prophetin, Heilkundige, Komponistin und kirchliche Ratgeberin. Ihre Visionen führten sie nicht in weltabgewandte Innerlichkeit, sondern machten sie zur unbequemen Stimme in einer von Machtmissbrauch, Frauenverachtung und geistlichem Stillstand geprägten Kirche.
In einer Zeit, in der Frauen kaum öffentliches Gehör fanden, schrieb sie Briefe an Päpste, stellte Bischöfe infrage, predigte in Kathedralen und widersprach dem religiösen und gesellschaftlichen Mainstream. Im Zentrum ihrer Theologie steht die Schöpfung: als leuchtende Spur Gottes und als Raum der Verantwortung.
Wer wie sie die Welt als »lebendig grünende Kraft« (viriditas) sieht, kann nicht schweigen, wenn diese Schöpfung bedroht, missachtet oder entheiligt wird. So wurde Hildegards Mystik zur Quelle eines Widerstands, der nicht aggressiv, sondern wach, schöpferisch und zutiefst geistlich ist – eine besonders heute aktuelle Spiritualität der Verantwortung.