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nach.gefragt - Sebastian Schiffmann

Wie gestaltet sich das Verhältnis von Demokratie und Kirche?

Erziehung und Bildung in einer Verhältnisbestimmung von Demokratie und Kirche

Die Kirche als religiöse Institution und die Demokratie als Staatsform sind Säulen unserer Gesellschaft. Beide können eine wichtige Rolle in der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen spielen. Der kirchliche Einfluss auf die prägenden Jahre eines jungen Menschen hat in den letzten Jahrzenten abgenommen, aber kirchliche Einrichtungen können weiterhin unsere Werte, Normen und Moralvorstellungen mitbestimmen. Die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Kirche ist daher nicht nur politisch, sondern auch aus der Perspektive von Erziehung und Bildung von großer Bedeutung. Jürgen Habermas skizziert die Herausforderung des politischen Bildungsauftrags so: „Die liberale Demokratie ist deshalb eine so anspruchsvolle und fragile Staatsform, weil sie nur durch die Köpfe der Bürger hindurch realisiert werden kann.“ (1) Eine funktionierende Demokratie setzt voraus, dass ihre Bürgerinnen und Bürger über das nötige Wissen und die Fähigkeiten verfügen, um informierte Entscheidungen zu treffen und ihre Rechte wahrzunehmen. Die Philosophin Martha Nussbaum merkt hierzu an: „Bildung ist ein Ziel, aber auch eine Chance. Wenn die Gesellschaft etwas für Bildung tut, tut sie auch etwas für ihre zukünftige Stabilität, und zwar nicht nur in ökonomischer Hinsicht, sondern auch hinsichtlich ihrer politischen Ziele. Bildung wird folglich einer der Hauptbereiche sein, in denen politisch erwünschtes Mitgefühl geformt wird und unerwünschte Emotionen wie Hass, Abscheu und Scham zurückgedrängt werden.“ (2)

Der katholische Bildungsbegriff ist tief in der christlichen Tradition verwurzelt. Er geht ebenfalls weit über die reine Wissensvermittlung hinaus und umfasst die ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung. Ziel ist es, den Menschen zu befähigen, ein selbstbestimmtes gutes Leben in Gemeinschaft zu führen und sich für das Gemeinwohl in Gruppen und einer (demokratischen) Gesellschaft einzusetzen. Bildung befähigt Menschen, sich selbst zu entfalten, kritisch zu denken, ihre Umwelt zu gestalten und aktiv an gesellschaftlichen Prozessen teilzuhaben. Die Überzeugung, dass der Mensch nach dem Ebenbild Gottes erschaffen ist, beinhaltet einen persönlichen und kirchlichen Auftrag zur Entfaltung der Persönlichkeit, Talente und Begabungen. Religiöse Bildung „lädt dazu ein, Grenzen, Scheitern, Vergeblichkeit aushalten zu lernen, aber auch im Lichte einer größeren Hoffnung gesellschaftlich-kulturelle Fixierungen zu transformieren.“ (3)

Bildung ist fundamentaler Bestandteil der menschlichen Entwicklung aus kirchlicher und gesellschaftlicher Perspektive sowie ein unveräußerliches Recht jedes Einzelnen. Im christlichen Sinne sowie auch als Menschenrecht ist Bildung auf die Einmaligkeit und Dignität der Person ausgerichtet. Eine weitere Parallele ist, dass die demokratische Verfassung als auch die christliche Soziallehre der Kirche grundlegende Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität teilen. Beide setzen sich für eine inklusive Gesellschaft ein, in der alle Menschen gleichberechtigt sind und ihre Talente frei entfalten können.

Eine weitere Verbindungslinie zwischen kirchlicher und gesellschaftlicher Parallele lässt sich über den Aspekt der Bildung ziehen. Die katholische Kirche hat über Jahrhunderte hinweg eine prägende Rolle in der Geschichte der Bildung gespielt. Ihre Institutionen, wie Klöster und Universitäten, waren oft die einzigen Orte, an denen Wissen gesammelt, bewahrt und weitergegeben wurde. Auch heute noch spielen kirchliche Bildungseinrichtungen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft. Sie vermitteln über Wissen hinaus auch Werte und fördern die Persönlichkeitsentwicklung. Von historisch privilegierten Bildungsorten und dem exklusiven Zugang zu Bildungsprozessen, ist die kirchliche Bildung mittlerweile für alle Menschen geöffnet. Die Teilhabe an und durch hochwertige Bildungsprozesse ist grundsätzlich inklusiv ausgerichtet. Die Kirche erfüllt nach dem Subsidiaritätsprinzip den staatlichen Bildungsauftrag in der Trägerschaft von Kindertageseinrichtungen, Schulen, Universitäten und Einrichtungen der Erwachsenenbildung. In Kirchen, Büchereien, Ferienfreizeiten, sozialen Einrichtungen, Beratungsstellen, Hospizen, Krankenhäusern und durch Kulturveranstaltungen eröffnet Kirche Räume der Resonanz, Bildung und Kommunikation über die zentralen Fragen unserer Gesellschaft. Wie können wir gut zusammenleben? Wie gehen wir miteinander um? Wie gehen wir mit den schwächsten Menschen unserer Gesellschaft um?

Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es auch klare Unterschiede. Die Demokratie ist auf Pluralität angewiesen, während die Kirche traditionell nach Einheit strebt. Die Demokratie basiert auf der Idee der Volkssouveränität, während die Kirche als Glaubensgemeinschaft eine frohe Hoffnungsbotschaft verkündet und eine Diesseits- sowie eine Jenseitsperspektiv einnimmt. Die Souveränität der Kirche basiert auf Jesus Christus und trotz demokratischer Elemente, welche Teilhabe und Mitbestimmung ermöglichen, gibt es in der katholischen Kirche eine hierarchische Organisationsstruktur.

Hartmut Rosa vertritt die These, dass Demokratie ein hörendes Herz und Selbstwirksamkeitserfahrungen benötigt für einen Aushandlungsprozess über diese gesellschaftlichen Fragen des gelungenen Zusammenlebens. Diese Haltung, sich anrufen zu lassen und echte Resonanz auf die Meinungen anderer Personen zu zeigen, sei in unserer Aggressionsgesellschaft besonders schwer einzunehmen. „Demokratie ist das zentrale Glaubensbekenntnis unserer Gesellschaft, aber die erfordert eben Stimmen, Ohren und hörende Herzen.“ (4) Nach Rosa verfügt gerade die Kirche über „die Narrationen, über das kognitive Reservoir, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen das hörende Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann.“ (5) Auf individueller Ebene lassen sich die gesellschaftlichen Fragen nochmals herunterbrechen: „Bin ich sicher? Bin ich wirksam? Gehöre ich dazu? Bin ich anerkannt?“(6) Diese Fragen sind die zentralen Themen der Kindheit und bleiben meistens bis zum Lebensende erhalten.

Die inhaltliche Ausrichtung der kirchlichen Bildungsorte muss diese Lebensfragen aufgreifen und eine christliche Haltung zum Leben und zur Welt anbieten. Das katholische Profil und der staatliche Bildungsauftrag ergänzen sich hierbei in den Bereichen der Selbstbildung und ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung. Pädagogische Konsequenzen ergeben sich für die religiöse Bildung als wichtigen Bestandteil der allgemeinen Bildung sowie der Förderung des interreligiösen Dialogs, um gegenseitiges Verständnis und Toleranz zu stärken. Ein weiteres Bildungsziel ist die Erziehung zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern im Sinne einer aktiven Partizipation am politischen Leben. Zentraler Bildungsauftrag vor dem Hintergrund großer gesellschaftlicher Aufgaben ist die Befähigung zum eigenen kritischen Denken auf Grundlage sowohl demokratischer als auch christlich-religiöser Werte und die Entwicklung einer persönlichen Haltung.

 

  1. Jürgen Habermas, Ein neuer Strukturwandel, 2022, S. 82
  2. Martha Nussbaum, Politische Emotionen, 2014, S. 192
  3. Bernhard Grümme, Die politische Dimension religiöser Bildung, S. 62. In: Bildung und Gerechtigkeit – Warum religiöse Bildung politisch sein muss: Judith Könemann, Norbert Mette, 2013
  4. Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion, 2022, S. 54
  5. Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion, 2022, S. 55
  6. Herbert Renz-Polster, Erziehung prägt Gesinnung. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können, 2020, S. 113

 

Sebastian Schiffmann, Erziehungswissenschaft M.A., Christentum in Kultur und Gesellschaft M.A., und leitet als Akademiedozent den Fachbereich "Erziehung, Bildung und Schule" in der katholisch-sozialen Akademie Franz Hitze Haus.