nach.gefragt - Prof. Dr. Dr. Hubertus Lutterbach
Der christliche Einsatz für die Kinder – bis zum „Grundgesetz“[1]
Zu den zentralen Merkmalen der Demokratie zählt der Schutz der Menschen in seiner Würde. Und das gilt für alle Menschen, egal, welche Religion sie haben, egal, aus welchem Land sie kommen, egal, welches Geschlecht sie haben, und egal, wie alt sie sind.
Welchen Impuls kann die Kirche der Demokratie in Deutschland zum Schutz der Würde der Menschen geben? So überraschend es angesichts des Missbrauchsskandals, der die Kirche(n) erschüttert, erscheinen mag: Das Christentum hat die Würde der Kleinsten lange Zeit wertgeschätzt und ist besonders angesichts der aktuellen Schuldgeschichte gegenüber den Kindern zu einem vertieften Einsatz zugunsten der Kinder aufgefordert – bis zum „Grundgesetz“.
Die Hochachtung gegenüber den Kleinen ist keine Naturgegebenheit. Noch in den antiken Gesellschaften, die das Urchristentum umgaben, galten Kinder ebenso wie alte Menschen als hilfsbedürftige und nutzlose Außenseiter.
In der Tradition des Judentums setzt Jesus mit seiner Wertschätzung der Kinder einen menschheitsgeschichtlich radikal neuen Akzent. Er stellt sich mit den Kindern sogar auf eine Stufe, wenn er ihnen eine gottgleiche Würde zuspricht: „Wer ein solches Kind um meines Namens willen aufnimmt, nimmt mich auf“ (Mt 18,5). Kein Zweifel: Jesus beachtet die Kinder um ihrer selbst willen. In der Folge standen seine Anhänger vor der Herausforderung, es ihm gleichzutun.
Einerseits ist es den Christ*innen und der Kirche bewusstseinsbildend und gesetzgebend gelungen, im Bereich des Kinderschutzes und der Kinderbildung neue Maßstäbe zu setzen. Beispielsweise zeugt die Vielfalt der mittelalterlichen kirchenrechtlichen Quellen wie auch ihrer Ausgestaltung in puncto Kinderschutz von einem erheblichen Vorsprung der kirchlichen gegenüber der weltlichen Gesetzgebung. Gleiches gilt für den Bereich der Kinderförderung. So dürfen mittelalterliche Christen als die „Erfinder“ sowohl des dreigliedrigen Schulwesens als auch einer altersspezifisch ausgerichteten Pädagogik gelten.
Andererseits hat die Kirche im Bereich der Kinderpartizipation noch immer Nachholbedarf dabei, Kindern sowohl die Gedankenfreiheit zuzugestehen als auch ihre Willensbekundungen ernst zu nehmen. Wie stark dieses Defizit den Alltag vieler Kinder bestimmt (hat), spiegelt sich darin wider, dass die Bischöfe angesichts von sexuellen Übergriffen durch Priester allzu oft den Tätern und nicht den Opfern geglaubt haben. So verletzten (auch) kirchliche Repräsentanten die Würde der Kinder.
Kurzum: Die UN-Kinderrechtskonvention von 1989, die als Kind jeden Menschen bis zum Alter von 18 Jahren definiert, konnte mit ihren Rechtsvorschriften in den Bereichen „Kinderfürsorge“ und „Kinderbildung“ wirkmächtige christliche Vorläufertraditionen fortschreiben. Dagegen fehlt den von der Staatengemeinschaft festgeschriebenen Kinder-Partizipationsrechten eine christlich-kirchliche Basis. Schwerwiegender noch: Bis heute ist die kindliche Mitwirkung in der (katholischen) Kirche längst nicht in wünschenswertem Maße umgesetzt – auf Kosten der Würde der Kinder! Umso mehr dürfen sich die christlichen Kirchen herausgefordert fühlen, mit all ihren Einflussmöglichkeiten für die Festschreibung der Kinderrechte im deutschen Grundgesetz einzutreten – als ihr weiterer Beitrag zugunsten der Kinder und des demokratischen Miteinanders in unserem Land.
Dr. phil., Dr. theol. Hubertus Lutterbach lehrt Christentums- und Kulturgeschichte an der Universität Essen und arbeitet als Ehrenamtlicher Priester im Bistum Osnabrück.
[1] Dieser Beitrag verdankt dem Gespräch mit meinem Kollegen und Freund Dr. Sebastian Eck (Münster, Duisburg-Essen) wichtige Impulse. – Wer sich vertieft mit der Thematik auseinandersetzen möchte, sei verwiesen auf mein weiter aktuelles Buch „Hubertus Lutterbach, Kinder und Christentum. Kulturgeschichtliche Perspektiven auf Schutz, Bildung und Partizipation von Kindern zwischen Antike und Gegenwart, Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2010“.