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nach.gefragt - Eva Maria Welskop-Deffaa

Die soziale Macht des Christlichen – Caritas, Zivilgesellschaft und Demokratie

Religiosität und Kirchlichkeit spielen in der säkularen deutschen Gesellschaft heute immer weniger eine Rolle – das hat die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU)[1] Ende letzten Jahres eindringlich gezeigt. Seit Jahrzehnten nimmt die Zugehörigkeit zu den beiden großen christlichen Konfessionen in Deutschland ab, der Einfluss der Kirchen im staatlichen Gefüge wird immer stärker angefragt. Gleichzeitig beobachten wir nicht nur zahlenmäßig einen Zuwachs der gesellschaftlichen Relevanz von Diakonie und Caritas.

Karl Gabriel, emeritierter Religionssoziologe aus Münster, spricht von einem „konfessionellen Paradox“, das u.a. in der Entwicklung der Zahl der Caritas-Mitarbeitenden sichtbar wird: Der Deutsche Caritasverband ist mit seinen 740.000 beruflichen und mehreren hunderttausend ehrenamtlichen Mitarbeitenden der größte privatrechtliche Arbeitgeber in Deutschland. Das Logo der Caritas ist im Ortsbild präsent und für viele das beruhigende Versprechen, dass ihnen geholfen wird, sollten sie einmal in Not geraten. „Die moderne Wohlfahrtsproduktion stellt nicht den einzigen, aber doch einen zentralen Ort des Christentums in der Gegenwartskultur dar.“[2] Als soziale Macht ist und bleibt das Christliche ein relevanter gesellschaftsprägender Faktor, caritative Einrichtungen sind erste - teilhabeförderliche - Begegnungspunkte mit dem Christlichen.

Diese Veränderung der Präsenz des Christlichen in der Gesellschaft hat auch Auswirkungen auf das kirchliche Selbstverständnis. Gefragt nach den wichtigsten Gründe für eine Kirchenmitgliedschaft antworten die Befragten der KMU: „weil die Kirche etwas für Arme, Kranke und Bedürftige tut“. Sie bleiben der Kirche verbunden, „weil sie sich für Solidarität und Gerechtigkeit in der Welt und die Zukunft der Menschheit einsetzt“. Nicht nur institutionell, auch individuell macht Kirche für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einen Unterschied: Während von allen Befragten der KMU etwas mehr als 40% angaben, ehrenamtlich engagiert zu sein, waren es unter den kirchlich-religiös Motivierten über 60%. Christentum bleibt Quelle eines menschenfreundlichen und gerechten Zusammenlebens, es schärft den Möglichkeitssinn und stärkt die Immunkräfte wider die Globalisierung der Gleichgültigkeit. Als Caritas tragen wir ganz konkret dazu bei, diese Quellen und Möglichkeiten des menschenfreundlichen Zusammenlebens zu stärken - angesichts heutiger Gefährdungen und Verrohungen herausfordernder und wichtiger denn eh und je.

Kirchen schaffen mit ihren Einrichtungen, Verbänden und Diensten Gelegenheitsstrukturen für gesellschaftliches Engagement. Sie bieten Räume, Finanzen, Wissen, etablierte und flächendeckende soziale Netzwerke, in denen sich gesellschaftliches Engagement leicht entfalten kann und in denen aktiv zur Mitarbeit eingeladen wird. Sie sind auf diese Weise „Schule der Demokratie“, zivilgesellschaftliche Quelle jener Engagementbereitschaft, ohne die Demokratie nicht funktioniert, wenn wir von ihr mehr erwarten als die Bereitschaft, alle vier Jahre ein Kreuzchen auf einen Wahlzettel zu machen.

In ihren eigenen Strukturen hat verbandliche Caritas an vielen Stellen ernst gemacht mit demokratischen Verfahren. Auch die Wahl der Präsidentin durch die Delegiertenversammlung ist ein solches Verfahren. In offenem Wettbewerb treten Kandidatinnen und Kandidaten für ihr Verständnis von Caritas ein und werben dafür, die richtige Person zu sein, um den Verband in Kirche und Welt zu repräsentieren. Ich habe das Verfahren, in dem mit mir zusammen zwei weitere Kandidaten antraten und in dem ich im November 2021 als Präsidentin ins Amt kam, als offen, fair und demokratisch erfahren. Es war eine dialogische Form, Zukunft von Kirche zu sondieren, auch wenn die Gespräche mit Mitgliedern und Gliederungen damals - von den Corona-Folgen überschattet - häufig nur digital erfolgten. Die Satzungsreform hat das Wahlverfahren 2023 geändert. Präsidentin und Vorstandsmitglieder werden zukünftig vom Caritasrat gewählt, mit weniger öffentlicher Auseinandersetzung, mit größerer Vertraulichkeit. Das schützt die Kandidaten, die mit der Öffentlichkeit ihrer Kandidatur bei ihrem bisherigen Arbeitgeber ein Risiko eingehen müssten, es nähert die Wahlverfahren von Präsidentin und weiteren Vorstandsmitgliedern an. Das ist gut so. Es soll dabei die demokratische Dignität aber nicht verloren gehen. Denn es geht nicht nur darum, nach innen ein effizientes Verfahren zu gestalten, sondern es bleibt Aufgabe der Caritas, demokratische Streitkultur in der Kirche lebendig zu halten. Als Motor und Quelle einer solidarischen Gesellschaft, die Demokratie und Sozialstaat als zwei Seiten einer Medaille gestaltet.

 

Eva Maria Welskop-Deffaa ist seit 2021 Präsidentin des Deutschen Cartitasverbandes. Ihre Schwerpunkte sind unter anderem Digitalisierung, soziales Europa und junges Engagement.

Bildrechte Porträt: Gordon Welters


[1] 1 EKD, Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft. Erste Ergebnisse der 6.

Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, online:

www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/07490_EKD_KMU_Web_neu.pdf

[2] Karl Gabriel, Die soziale Macht des Christlichen. Religion und Wohlfahrt in Deutschland und Europa (Religion und Moderne 31), Frankfurt / Main 2024, 17.