nach.gefragt - Benedict Dahm
Die Kirche ist nicht demokratisch – und gerade deshalb für die Demokratie unverzichtbar
Die katholische Kirche ist in der deutschen Gesellschaft ein archaisches Gebilde. Immer weniger als sinnstiftende oder normative Instanz, hingegen aber weiterhin als einer der großen Player auf dem Arbeitsmarkt, in der Pflege, Krankenversorgung, Bildung und Erziehung, ist diese uralte Institution nach wie vor eng mit unserem freiheitlich-demokratischen Staatswesen und seiner Administration verwoben. Die Zusammenarbeit von Kirche und Staat in Deutschland ist mannigfaltig, obwohl die kirchliche Verfassung in einer strengen Hierarchie besteht, an deren Spitze das monarchisch regierende Oberhaupt eines Zwergstaates gesetzgebende, ausführende und rechtsprechende Gewalt in Personalunion ausübt.
Unzähligen Gremien, Memoranden und Initiativen für die Demokratisierung der Kirche zum Trotz: Die Catholica ist keine Demokratie. Die Idee, dass sie es dringend werden und längst hätte sein müssen, um dem demokratischen Staat ein symbiotischer Partner sein zu können, beruht auf einem doppelten Missverständnis – zum einen der Demokratie, zum anderen der Kirche.
Demokratie ist ein Begriff, der zwar recht inflationär, selten aber semantisch trennscharf verwendet wird. Demokratische Systeme können durchaus sehr unterschiedlich beschaffen sein. Ihnen gemein ist in aller Regel die Idee, die Herrschaft in einem Staat auf Basis der gleichberechtigten Partizipation erwachsener Bürger zu legitimieren. Insofern ist Demokratie zunächst nichts weiter als eine Organisationsform von Macht, die mehr als andere Herrschaftsformen den in westlichen Gesellschaften prävalenten Idealen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit entspricht. Damit ist Demokratie die jeweilige praktische Ausgestaltung der Idee der Volkssouveränität: Die verfassungsgebende und legitimierende Gewalt liegt gänzlich in den Händen des Volkes.
In der Kirche dagegen kann es keine Volkssouveränität geben, weil sie sich in Ursprung und Ziel fundamental vom Staat unterscheidet. Als mystischer Leib Christi ist die Kirche die Ausdehnung der Menschwerdung und des Erlösungswerkes Gottes in die Geschichte hinein. Das ist keine bloße Metapher, sondern ekklesiologische Quintessenz: „Wie in Christus die göttliche Natur von der Menschheit nicht zu trennen ist, so ist die Kirche nicht von Christus zu trennen.“[1] Daraus folgt dreierlei:
1. Verfassung: Die Verfassung der Kirche ist die einer Stiftung. Sie konstituiert sich nicht auf Grundlage von Mehrheitsvoten, sondern unterliegt dem Stifterwillen. Hinzu kommt: Als „Gemeinschaft der Heiligen“ erschöpft sich die Kirche nicht in der Gemeinschaft der lebenden Gläubigen, sondern ist überzeitlich und transzendent. Maßgeblich für die Entscheidungsträger ist insofern die Apostolische Tradition, also der sich in die Geschichte hinein „überliefernde“ Christus – und nicht punktuell erhobene Mehrheiten der Gläubigen. Der theologisch wichtige „sensus fidelium“, also der Glaubenssinn des Gottesvolkes, ist daher auch nicht zu verwechseln mit basisdemokratischer Entscheidungsfindung, sondern stets an die Kontinuität und Konsistenz mit der kirchlichen Überlieferung gebunden.
2. Zweck: Bei der staatlichen Demokratie geht es darum, die divergenten Interessen der Bürger so zu organisieren, dass der Einzelne an der Willensbildung des Volkes partizipieren kann. Derart gestaltete Interessen- und Güterabwägung ist die Grundlage demokratischer Gesetzgebung. In der Kirche hingegen ist nicht Güterabwägung, sondern allein das höchste Gut gesetzgebendes Prinzip: Salus animarum suprema lex – „das Heil der Seelen, das in der Kirche immer das oberste Gesetz sein muss“, wie es im Kodex des kanonischen Rechts formuliert ist (c. 1752 CIC).
3. Repräsentation und Souveränität: Ähnlich verhält es sich mit der Idee der Repräsentation, die in beiden Systemen Legitimationsquelle für die Konzentration von Macht ist. Im Staat entscheiden Abgeordnete als gewählte Stellvertreter der Bürger, Richter sprechen Recht „im Namen des Volkes“. In der Kirche regiert der Papst als Stellvertreter Christi. Im Hintergrund steht die Frage, wer im jeweiligen System der Souverän ist: In der Demokratie ist es das Volk, in der Kirche ist es Christus. Leitungsgewalt hat in beiden Systemen, wer als Repräsentant des Souveräns legitimiert ist.
Etwas verkürzt lässt sich sagen: Der Staat konstituiert sich von unten, die Kirche von oben. Es ist deshalb ein Kurz- und Fehlschluss, abzuleiten, die Kirche stehe aufgrund ihrer hierarchischen Ordnung im Widerspruch zur Demokratie als Staatsform oder könne dieser nur dann gerecht werden, wenn sie selbst ihre Macht demokratisch distribuiert. Das wäre nur dann der Fall, wenn auch die Kirche eine im Wortsinn autonome – also sich selbst Gesetz gebende – menschliche Gemeinschaft wäre. Dass sie dies nicht ist, wird oft deshalb vergessen, weil man die Kirche auf ihren ethischen oder sozialen Nutzen – und damit ihren rein weltlichen Wert – verkürzt. Tatsächlich sind ihr karitatives Handeln und ihr potenziell Orientierung stiftendes Ethos lediglich kausal nachgeordnete Ausdrucksformen ihrer auf übernatürliche Güter ausgerichteten Sendung. Gerade weil sie aber vom Staatswesen so verschieden ist, kann die Kirche der Demokratie etwas geben, was diese nicht aus sich selbst hervorbringen kann. Kirche erinnert nämlich einen Staat, in dem zurecht und notwendig das Volk und somit der Mensch das Maß aller Dinge ist, an die grundsätzliche Unvollkommenheit und Bedingtheit menschlicher Herrschaft, sei sie auch noch so demokratisch legitimiert. Dass das Grundgesetz in seiner Präambel die Volkssouveränität an Gott rückbindet, ist insofern nicht Ausdruck an den Entstehungskontext gebundener Frömmigkeit, sondern das Fundament unserer Verfassung: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“, heißt es dort, „hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“[2]
Ohne diese Rückbindung gibt es prinzipiell keinerlei Schranke zwischen der Demokratie und dem Rückfall in die Barbarei. Zwar sind Prinzipien wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde durch Artikel 79, Abs. 3 des Grundgesetzes geschützt, der ihre Unveränderlichkeit garantiert. Da diese Ewigkeitsklausel aber selbst Teil der Verfassung ist, ist sie nicht davor gefeit, dass sich das Volk eine neue Verfassung gibt, in der diese Schutznormen aufgehoben sein können. Auch die Ewigkeitsklausel ist daher letztlich nur freiwillige Selbstverpflichtung. Erst der Gottesbezug mahnt, dass auch der verfassungsgebende Souverän absolut gesetzten, überpositiven Normen unterworfen ist, über die er selbst nicht verfügen kann. Ohne diese heteronome Verankerung der ansonsten völlig autonomen Volkssouveränität in der Sphäre des Absoluten wäre die demokratische Selbstgesetzgebung nichts als ein Akt der Willkür, der jederzeit in eine Tyrannei der Mehrheit abgleiten kann.
Die Präambel und der erste Artikel des Grundgesetzes stehen daher in einem untrennbaren inneren Zusammenhang; gleich zwei atheistische Diktaturen auf deutschem Boden dienen hierzu als verheerende Gegenprobe. Wie konkret den Müttern und Vätern der deutschen Demokratie diese historische lehre vor Augen stand, kommt besonders eindrucksvoll in der Präambel der Bayrischen Landesverfassung zur Sprache, wo es heißt:
„Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat, […] gibt sich das Bayerische Volk, eingedenk seiner mehr als tausendjährigen Geschichte, nachstehende demokratische Verfassung.“[3]
Vor diesem Hintergrund ist es im Übrigen durchaus als ein Warnsignal für die Demokratie zu betrachten, dass in der derzeitigen Bundesregierung der Regierungschef und die Hälfte des Kabinetts auf den Gottesbezug in ihrem Amtseid verzichtet haben. Denn genau wie in der Verfassung, ist dieser Zusatz – „so wahr mir Gott helfe“ – gerade kein individuelles Glaubensbekenntnis, sondern Negation eines absolutistischen Umgangs mit der übertragenen Macht.
Dass die Kirche für die Demokratie wichtig – letztlich unverzichtbar – ist, hat also denselben Ursprung wie der Umstand, dass die Kirche selbst keine Demokratie ist: das Bewusstsein, dass jede irdische Macht bedingt ist durch die Allmacht Gottes. Ihre demokratiefördernde Kraft liegt daher nicht zuerst im sozialen Wirken der Kirche, sondern in ihrer Gottesverkündigung.
Benedict Dahm, Katholische Theologie M.A., Schwerpunkt Mittlere und Neuere Kirchengeschichte.
[1] KASPER, Walter: Die Lehre von der Tradition in der Römischen Schule
(= WKGS Bd.1). Freiburg i. Br. 2011, 441.
[2] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, Präambel.
[3] Verfassung des Freistaates Bayern vom 8. Dezember 1946, Präambel.