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nach.gedacht

Von Zeitenwenden und Sandkörnern

von Sebastian Lanwer

Schon die Bibel erwähnt die unbestimmbare Vielheit des Sandes: „Ich will […] deine Nachkommen zahlreich machen wie den Sand am Meer, den man wegen der Menge nicht zählen kann“ heißt es im 1. Buch Mose. So zahlreich wie alle Sandkörner der Welt sind auch die Wege des gesellschaftlichen Wandels.

Seit der Regierungserklärung zum russischen Überfall auf die Ukraine am 27. Februar 2022 findet die These von der „Zeitenwende“ rege Beachtung. Bundeskanzler Scholz sagte damals vor dem Deutschen Bundestag: „Die Welt […] ist nicht mehr dieselbe.“ Putin „zertrümmert die europäische Sicherheitsordnung. […] Diese neue Realität erfordert eine klare Antwort“, so Scholz weiter, einen „klaren Handlungsauftrag“. Gefahr erkannt – Gefahr gebannt?

Der Völkerrechtsbruch durch das Kreml-Regime hat jeden Tag grausame Folgen für alle Menschen von Kiew bis nach Donezk. Die Ukrainer:innen brauchen weiterhin unsere Solidarität. Aber abgesehen davon, dass die Bewertung des Krieges in der Ukraine als größte Bedrohungslage für Europa seit dem Zustandekommen der KSZE-Schlussakte sämtliche Konflikte im postjugoslawischen Raum ignoriert, lässt sich bezweifeln, ob eine gesellschaftliche Zeitenwende überhaupt rhetorisch ausgerufen und zielgenau gesteuert werden kann. Die politischen Dynamiken der letzten zwei Jahre sprechen jedenfalls kaum dafür.  

Scholz hat verstanden, dass die performative Gestaltungsabsicht zur Herstellung von Legitimation wichtig ist. Das sollte man ihm keineswegs verübeln, denn das Bedürfnis, tiefgreifende Veränderungen auf kausale Entscheidungsmomente zurückzuführen, ist in der Bevölkerung groß. Bekanntlich stellt der Krieg in der Ukraine derzeit nicht die einzige Erfahrung von Instabilität dar. Allerorten verbreiten sich Gefühle von Selbstwirksamkeitsverlust oder sogar Misstrauen gegen die politische Repräsentation insgesamt. Erst im Angesicht kollektiver Krisen wird das Fehlen von vermeintlich selbstverständlichen Stabilitätsleistungen schmerzlich erkennbar.

Große Umbrüche bzw. Zeitenwenden sind in komplexen Gesellschaften allgemein erwartbar wenngleich selten. Man könnte hier präziser von „Phasenübergängen“ sprechen und damit eine Begrifflichkeit aus der Physik verwenden, welche das Resultat qualitativer Transformationsschritte bei nur geringen Variationen in den Ausgangsbedingungen bezeichnet. Die finale Verschlechterung aus einer Reihe minimaler Verschlechterungen kann irgendwann zum ausschlaggebenden Veränderungsfaktor werden. Allerdings bleiben die Voraussetzungen für spontane, unumkehrbare Wechsel von einem alten in einen neuen Zustand bei nichtlinearen sozialen Phänomenen weitgehend unbestimmt. Eine gesunde Skepsis gegenüber vollmundigen Prognosen und Steuerungsversprechen ist deshalb dringend geboten. 

Ein Beispiel aus der Komplexitätsforschung soll diese Überlegungen veranschaulichen: Wenn gleichmäßig Sandkörner auf einen Haufen rieseln, bildet sich zunächst ein kleiner Kegel, der bald an Höhe gewinnt. Nach und nach laufen Ströme von den Flanken herab - manchmal sogar ruckartige Lawinen - sodass der Hügel kurzfristig seine ursprüngliche Form verliert, bevor er wieder zum Kegel anwächst. Die Steigung des Sandhügels bleibt dabei nahe an jenem kritischen Wert, ab dem die oberen Schichten herunterrutschen. Dieser Zustand „selbstorganisierter Kritikalität“ wurde von dem dänischen Physiker Per Bak berechnet.

Freilich ist unsere Gesellschaft kein Sandhaufen. Das Bild gibt dennoch Aufschluss: Im metaphorischen Sinne hängen nämlich grobkörnige und feinkörnige Prozesse - sprunghafte Zeitenwenden und sanfte Reformschritte - eng zusammen; ihre Facetten verschwinden als wechselwirksamer Übergang. Auch soziale Systeme können ein relatives Gleichgewicht erreichen, indem sie Kritikalität selbst organisieren. In einer Demokratie müssen jene Verantwortungsträger:innen, die zu moderieren versuchen, idealerweise den Mut haben, gewisse Spannungen auszuhalten. Denn Spannungen machen das Politische buchstäblich spannend. Jenseits des konsensualen Einheitshorizontes lebt unsere agonale (nicht antagonistische) Demokratie tatsächlich vom Widerspruch. Selbstzurücknahme darf hier gerade nicht mit Staatsversagen verwechselt werden, sondern erfüllt die pluralistische Funktionslogik. Diese Betrachtungsweise ermöglicht ein optimistisches Verständnis von Krisen oder Konflikten als Impulse zur Konsolidierung und Integration.

Was bedeutet dies schließlich für die Bildungsarbeit der Akademie Franz Hitze Haus? Unser Anspruch muss sein, feinkörnig auf die Gesellschaft zu blicken, um subtile Wechselwirkungen und mikropolitische Bewegungen nicht zu übersehen. Aus diesem Grund möchten wir mit unserem Veranstaltungsprogramm auch gegenläufige Diskurse fördern, deren Inhalte nicht (mehr) im medialen Aufmerksamkeitsfokus stehen, sodass eine unaufgeregte, intensive thematische Auseinandersetzung erfolgt. Darüber hinaus wollen wir einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten, ob die bisher vorgebrachten Krisenstrategien standhalten können, oder ob es alternative Problemperspektiven zur Entwicklung neuer Lösungsansätze braucht.

Sebastian Lanwer ist Akademiedozent, Soziologe und Politikwissenschaftler. Als Leiter des Fachbereichs 3 „Junge Akademie“ bearbeitet er insbesondere Themen der politisch-historischen Bildung sowie der Friedens- und Sicherheitspolitik.

Mit dem Format „nach.gedacht“ möchte Sie die Akademie Franz Hitze Haus herzlich zum Mitdenken einladen. Schicken Sie uns gerne Ihre Gedanken oder Rückmeldungen zum Text entweder per Post oder Mail an: nach.gedacht@franz-hitze-haus.de